Wieso weinen Sterbende nie?

Lesedauer 3 Minuten

Der 11. Fragebogen von Max Frisch

Dieser Frage begegnet man ganz am Ende dieses nachfolgend vorgestellten 11. Fragebogens von Max Frisch.

Der 1991 in Zürich verstorbene Max Frisch formulierte in seinem 2. Tagebuch mehrere thematisch strukturierte Fragebogen wobei die Fragestellungen zum Thema „Tod“ die letzten in dieser Reihe waren.

Frisch, in dessen Zentrum des Schaffens das „Finden und Behaupten einer eigenen Identität, insbesondere in der Begegnung mit den festgefügten Bildern anderer stand“ (WIKI), versucht mit seinen Fragen den Leser da abzuholen, wo dieser gerade glaubt zu stehen. Anders ausgedrückt, der Leser soll durch das auf sich selbst Zurückgeworfen sein, sich selbst auf den Zahn fühlen.

Nicht immer leicht, doch immer erkenntnisreich.

  1. Haben Sie Angst vor dem Tod und seit welchem Lebensjahr?
  2. Was tun Sie dagegen?
  3. Haben Sie keine Angst vor dem Tod (weil Sie materialistisch denken, weil Sie nicht materialistisch denken), aber Angst vor dem Sterben?
  4. Möchten Sie unsterblich sein?
  5. Haben Sie schon einmal gemeint, dass Sie sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen:
    a. was Sie hinterlassen?
    b. die Weltlage?
    c. eine Landschaft?
    d. dass alles eitel war?
    e. was ohne Sie nie Zustandekommen wird?
    f. die Unordnung in den Schubladen?
  6. Wovor haben Sie mehr Angst: dass Sie auf dem Totenbett jemand beschimpfen könnten, der es nicht verdient, oder dass Sie allen verzeihen, die es nicht verdienen?
  7. Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: überrascht es Sie, wie selbstverständlich es Ihnen ist, dass die andern sterben? Und wenn nicht: haben Sie dann das Gefühl, dass er Ihnen etwas voraushat, oder fühlen Sie sich überlegen?
  8. Möchten Sie wissen, wie Sterben ist?
  9. Wenn Sie sich unter bestimmten Umständen schon einmal den Tod gewünscht haben und wenn es nicht dazu gekommen ist: finden Sie dann, dass Sie sich geirrt haben, d. h. schätzen Sie infolgedessen die Umstände anders ein?
  10. Wem gönnen Sie manchmal Ihren eigenen Tod?
  11. Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick genießen?
  12. Was stört Sie an Begräbnissen?
  13. Wenn Sie jemand bemitleidet oder gehasst haben und zur Kenntnis nehmen, dass er verstorben ist: was machen Sie mit Ihrem bisherigen Hass auf seine Person beziehungsweise mit Ihrem Mitleid?
  14. Haben Sie Freunde unter den Toten?
  15. Wenn Sie einen toten Menschen sehen: haben Sie dann den Eindruck, dass Sie diesen Menschen gekannt haben?
  16. Haben Sie schon Tote geküsst?
  17. Wenn Sie nicht allgemein an Tod denken, sondern an Ihren persönlichen Tod: sind Sie jeweils erschüttert, d. h. tun Sie sich selbst leid oder denken Sie an Personen, die Ihnen nach Ihrem Hinschied leidtun?
  18. Möchten Sie lieber mit Bewusstsein sterben oder überrascht werden von einem fallenden Ziegel, von einem Herzschlag, von einer Explosion usw.?
  19. Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?
  20. Wenn der Atem aussetzt und der Arzt es bestätigt: sind Sie sicher, dass man in diesem Augenblick keine Träume mehr hat?
  21. Welche Qualen ziehen Sie dem Tod vor?
  22. Wenn Sie an ein Reich der Toten (Hades) glauben: beruhigt Sie die Vorstellung, dass wir uns alle wiedersehen auf Ewigkeit, oder haben Sie deshalb Angst vor dem Tod?
  23. Können Sie sich ein leichtes Sterben denken?
  24. Wenn Sie jemand lieben: warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem andern überlassen?
  25. Wieso weinen die Sterbenden nie?

Quelle: Max Frisch: Fragebogen, ISBN 3518394525

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

Schon gelesen?

Gruppe „Opas gegen Denkverbote“ verleiht jetzt auch Opas

Denkverbote umgehen, indem sie „Rent a Opa“ für sich denken lassen.